Interview mit Pfarrer Hartmut Wittig – Geflüchtete privat aufnehmen: „Teilgeben und Teilnehmen in schwerer Zeit“
von Jürgen Bosenius

Pfarrer Hartmut Wittig berichtet im Gespräch mit Jürgen Bosenius darüber, warum er und seine Frau sich entschieden haben, Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufzunehmen, was das für den Alltag bedeutet und welche Tipps er Menschen gibt, die ebenfalls helfen und Geflüchtete aufnehmen wollen. Hartmut Wittig war bis zu seiner Verabschiedung im Sommer 2017 stellvertretender Superintendent im Kirchenkreis Lichtenberg-Oberspree und Gemeindepfarrer der Ev. Kirchengemeinde Berlin-Hellersdorf.
Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen. Millionen Menschen sind seitdem auf der Flucht. Viele Kirchengemeinden im Kirchenkreis, viele Privatpersonen in unseren Gemeinden haben Geflüchtete bei sich aufgenommen, darunter auch Sie und Ihre Frau. War das ein spontaner Entschluss?
Am 1. März morgens haben wir uns aus Ohnmacht und Verzweiflung angesichts der Nachrichtenlage über den Krieg entschlossen, eine Bekannte aus der Berliner ukrainischen Community anzurufen und ein Quartier anzubieten – am Nachmittag standen eine Großmutter, ihre Tochter und Schwiegertochter mit drei Kindern vor unserer Tür. Unsere drei eigenen Kinder sind seit wenigen Jahren aus dem Haus, da ist Platz.
Unser beschauliches Rentnerdasein hat sich nun ganz schön gewandelt – doch entspricht das ja dem radikalen Wandel, der sich nun vielfach ereignet: Teilgeben und Teilnehmen in schwerer Zeit.
Wie reagiert Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung?
Das ist eine sehr gute Erfahrung! Die Anteilnahme ist in Familie, Nachbarschaft und unter Freunden sehr groß. Natürlich: Nicht jeder kann das tun, wie wir das machen, und niemand soll sich dafür rechtfertigen müssen. Die Solidarität ist im Moment so groß, dass wir schon nach wenigen Tagen eine erste Kleinbusladung von der Größe unseres Gemeinde-Kleinbusses in Hellersdorf einem privat finanzierten Konvoi mitgeben konnten, der die Spenden an die ukrainische Grenze bringt, von wo aus die Hilfsgüter von den in der Ukraine zurückgebliebenen Männern übernommen und in ein großes Verteilzentrum in Czernowitz gebracht werden. Auf der Rückfahrt können dann an der ukrainisch-rumänischen Grenze gestrandete Flüchtlinge nach Berlin mitkommen.
Welche Unterstützung haben Sie von staatlicher Seite erhalten, etwa dem LAF/Lageso?
Keine. Wir haben aber zunächst auch keine erwartet. Aber jetzt, wo es darum geht, dass z.B. ein Arbeitsvertrag abgeschlossen werden könnte oder auch Krankenversicherung greifen muss, Schule und Kindergarten besucht werden müssen, ist seit zwei Wochen kein entsprechender Internetkontakt zu LAF/Lageso möglich. Wir erwarten ein einfaches kurzfristiges Anmeldeverfahren ohne stundenlange und demotivierende Wartezeiten in Ämtern oder wochenlange Terminvergaben über Internetportale, mit entsprechend unbürokratischen Ein- oder Nachreichungen von gescannten Unterlagen z.B. per E-Mail, wie sie der Flüchtlingsrat bereits auf seiner Homepage bereithält. Zwei solcher Formulare haben wir am 10. März per Einschreiben mit Rückschein ans LAF geschickt, die kamen heute (17. März 2022, Anm.d.Red.) an.
Gibt es auch positive Erfahrungen?
Ja, große Hilfsbereitschaft beim Sozialamt in Hellersdorf und ein Willkommenskaffee am 12. März für ukrainische Gäste hier in Mahlsdorf, um sich untereinander zu vernetzen – organisiert von einem Mitglied des Abgeordnetenhauses und seinen Helfern. Was viele vielleicht gar nicht glauben können, der fünfzehnjährige Junge wird bei uns noch immer von seinem Lehrer in der Ukraine in einer Telefonkonferenz unterrichtet! Und wegen eines Luftalarms musste der Unterricht vor kurzem abgesagt werden ...
Welchen Rat würden Sie den Menschen geben, die Ihrem Beispiel folgen und Geflüchtete bei sich aufnehmen wollen?
Zuhören, auch wenn man nicht alles sprachlich verstehen kann, wenn die Gäste ihren Weg bis hierher und das Erlebte erzählen. In unsere gemeinsamen Gebete zum Abendbrot (mit der Übersetzungs-App statt dem Gesangbuch in den gefalteten Händen) nehmen wir kurz die Nachrichten auf, die sie über ihre Handys aus der Heimat bekommen.
Man muss wissen: Die Aufnahme erfolgt ohne Befristung, bis die Gäste entweder wieder nach Hause können oder in Berlin und Umgebung eine Wohnung finden.
Können Sie ein paar konkrete praktische Tipps geben?
Ja, mit einer solchen Entscheidung ist ganz selbstverständlich, dass
- die häuslichen Abläufe anders werden;
- gerade eine zweite Toilette und Duschmöglichkeit sehr wünschenswert wären;
- ein höherer Aufwand mit Lebensmitteln, Energie- und Wasserverbrauch ebenso in der Küchenbenutzung entsteht;
- auch organisatorisch für die Gäste einiges getan werden muss;
- Gäste ihre Privatsphäre brauchen, ebenso wie ein wenig Gemeinschaft mit den Gastgebern;
- Gäste frei sind und mit ihrer Zeit machen können, was und wie sie es wollen.
Ihr Fazit, nachdem Ihre Gäste seit nunmehr gut zwei Wochen bei Ihnen sind?
Kinder bringen Leben in die Bude – aber das kennen wir ja von den eigenen Enkeln.
Lieber Herr Wittig, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.