„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche

von Jürgen Bosenius

„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche. Foto: Jürgen Bosenius

„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche

Die Besucherinnen und Besucher des zweiten Bachkantatengottesdienstes (Gesamtprogramm als PDF zum Herunterladen) am 16. Oktober 2022 in der Lichtenberger Erlöserkirche ließen keinen Zweifel daran, dass ihnen das Konzert gefallen hatte: Mit stehenden Ovationen würdigten sie die Leistung der Kantorei der Pfarrkirche Altglienicke, des Regionalorchesters Ensemble Pro Musica Sacra unter Leitung von Kreiskantor Martin Knizia und der SolistInnen Senta Aue, Alt, Christian Mücke, Tenor, und Pierre Chastel, Bass.

„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche. Foto: Jürgen Bosenius„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche. Foto: Jürgen Bosenius„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche. Foto: Jürgen Bosenius„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche. Foto: Jürgen Bosenius„Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn“: Bachs „wechselvolle“ Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) beim Kantatengottesdienst am 16. Oktober 2022 in der Erlöserkirche. Foto: Jürgen Bosenius

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Superintendent Hans-Georg Furian legte den Schwerpunkt seiner Interpretation des Kantatentextes „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ (BWV 12) auf „den Perspektivwechsel, der sich an dieser Kantate ablesen lässt. Vom Beginn: „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ zum Schlusschoral, in dem es heißt: „Es mag mich auf die rauhe Bahn Not, Tod und Elend treiben. So wird Gott mich ganz väterlich in seinen Armen halten: Drum lass ich ihn nur walten.“ Was macht einen solchen Wechsel möglich?

Vollzöge er sich nicht – und für etliche Menschen ereignet er sich tatsächlich nicht –, fühle ich mich an eine Fabel von Franz Kafka erinnert, in der es heißt: „»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« - »Du musst nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.“ (Franz Kafka) So aussichtslos scheint Manchem die Lage – und wer sie so sieht, findet dafür Anhaltspunkte.

Aber: in der Kantate bleibt es nicht dabei – und auch in unserem Leben muss es nicht dabei bleiben. Die Kantate vollzieht einen Perspektivwechsel. Im Schlusschoral heißt es: „Es mag mich auf die rauhe Bahn Not, Tod und Elend treiben. So wird Gott mich ganz väterlich in seinen Armen halten: Drum lass ich ihn nur walten.“ Was macht einen solchen Wechsel möglich?

In einer kleinen Geschichte wird das plastisch. Da heißt es: „Ein Vater arbeitet am Schreibtisch. Sein kleiner Sohn spielt recht geräuschvoll im Zimmer nebenan. Der Vater möchte seine Ruhe haben. Er nimmt eine alte Zeitschrift und reißt ein Blatt heraus, auf dem eine Weltkarte abgebildet ist. Die zerreißt er in lauter kleine Stücke, gibt sie dem Sohn und sagt: ››Hier, ich habe einen herrlichen Zeitvertreib für dich. Setz mal die alte Welt wieder schön zusammen« Und er hofft, nun habe er eine Weile Ruhe. Aber der Sohn kommt schnell, viel zu schnell für den Vater, mit der zusammengesetzten Weltkarte wieder zurück. Der Vater staunt: »Wie hast du das bloß gemacht?« - »O, das war ganz einfach. Auf der Rückseite war ein großes Bild von einem Menschen. Ich brauchte nur den Menschen zusammenzusetzen, dann war auch die Welt wieder ganz.“ (Johannes Kuhn)

Das Kind dreht die Welt um. Schon entsteht eine andere Perspektive. Aus dem Chaos auf der sichtbaren Vorderseite wird ihm ein sinnhaftes Ganzes auf der Rückseite deutlich. An diesem orientiert sich das Kind. Darum kann es die Vorderseite zusammensetzen. Das, liebe Gemeinde, beschreibt die Leistung unseres christlichen Glaubens. Er macht eine Unterstellung. Die unsichtbare Rückseite ergibt einen Sinn. Und darum ist auch die Vorderseite nicht sinnlos. Wir setzen darauf, dass Gott die Fäden in der Hand hat – keine dunkle Macht des Schicksals, sondern Christus.

Die Bachkantate im Gottesdienst ist eine schöne Tradition des Kirchenkreises Berlin Süd-Ost: Jeweils am dritten Sonntag der Monate September bis November findet um 18 Uhr in der Lichtenberger Erlöserkirche ein Kantatengottesdienst so statt, wie er vermutlich auch zu Johann Sebastian Bachs Zeiten gestaltet war. Eine seiner Kantaten wird hier durch einen der Chöre des Kirchenkreises im Gottesdienst gesungen und die Texte der Kantete durch einen Gastprediger in besondere Weise ausgelegt.

Nächstes Konzert: Am Sonntag, 13. November 2022, um 18 Uhr können Sie sich auf die Aufführung der Kantate BWV 39 „Brich dem Hungrigen dein Brot“ durch die Kantorei Erlöser unter der Leitung von KMD Matthias Elger freuen.

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