Zur Relevanz
Von Dr. Christian Schölzel, Historiker und wissenschaftlicher Berater des Projektes
Was bedeutet (uns) und zu welchem Ende studieren wir Walther Rathenau (1867-1922)?
So etwa könnte man in Anlehnung an Friedrich Schillers Antrittsvorlesung 1789 in Jena fragen.
Rathenaus Leben und Werk spielen sich im späten Kaiserreich sowie der jungen Weimarer Republik ab. In seiner Wirkungsmacht, in der vielfältigen und breiten Wahrnehmung wird Walther Rathenau immer wieder zum Akteur, zum Spiegel der Epoche(n). An seiner Person können wir heutzutage vieles personifiziert ablesen: den take-off der deutschen Wirtschaft im Wilhelminismus wie den Untergang der Monarchie, die Vielfalt der kulturellen Moderne schon im Kaiserreich, die apokalyptischen Verwerfungen des Ersten Weltkriegs oder die zahlreichen Geburtswehen der Weimarer Republik. Geschichtsvermittlung für junge Menschen kann über fassbare Personen besser gelingen. Dies gilt gleichermaßen auch für lokales Geschehen, denkt man daran, dass die jungen Kuratoren/innen im Kirchenkreis Berlin Süd-Ost beheimatet sind; in der Nähe vieler AEG-Bauten oder des Familiengrabs der Rathenaus.
Rathenaus Zerrissenheit, seine Suche nach der Identität als Sohn gegenüber dem übermächtig erscheinenden Vater, Emil Rathenau sind übertragbare Probleme und mithin hier Anknüpfungspunkte zu den Lebenswirklichkeiten vieler Heranwachsender. Untrennbar verknüpft ist dies mit Rathenaus Selbstdiskurs als Jude.
Er erlebt nachweisbar schon als Kind erste Diskriminierungen als Jude. Neben der Erfahrung von außen erfährt Walther Rathenau die Folgen des ihn umgebenden Judenhasses auch daheim. Seine Familie geht mit dem Alltagsantisemitismus auf zweierlei Wiese um: Zum Einen werden jüdische Glaubens- und Kulturtraditionen gänzlich negiert, christliche Bräuche hingegen gepflegt. Zum Anderen und darüber hinausgehend verinnerlicht man die "cultural codes" der Antisemiten, hoffend, dass deren Verwendung einen vor weiteren Anfeindungen schütze. Rathenau macht sich dieses Verhalten zu eigen. Gleichzeitig sucht er immer wieder die Selbstbehauptung als Jude. Rathenau als Jude bietet also nicht nur Lehrmaterial dafür, was Diskriminierung anzurichten vermag, sondern auch, wie kompliziert die Suche nach dem eigenen Sein werden kann.
"Taugt" die Beschäftigung mit Rathenau auch für die Erziehung Jugendlicher zu Toleranz und Demokratie? Seine bildungsbürgerliche, zuweilen überkonfessionelle Offenheit, sein Eintreten für eine liberale Demokratie legen diesen Schluss zunächst nahe. Gleichwohl sollten Rathenaus konservativ geprägte Zuneigung zum preußischen Adel nicht vergessen werden. Demokratische Forderung wie konservativ-feudale Anpassung schienen zwei alternierende Wege zu sein, der Benachteiligung als Jude entfliehen zu können.